Wie der Content First-Standard “bitmark” die Demokratisierung und digitale Transformation des Lernens ermöglicht

Oder was die Digitalisierung von Lehrbüchern mit Schiller und Steckdosen zu tun hat.

Philippe Pointet
7 min readJan 4, 2021

Haben Sie sich auch schon gewundert, warum kaum digitale Lehrbücher verwendet werden in der Schule, im Sprachkurs oder für die berufliche Weiterbildung?

Die Antwort ist einfach: Weil es kaum digitale Lehrbücher gibt.

Das wurde der Welt während den Corona-Lockdowns schmerzlich vor Augen geführt (etwa dann, wenn den Schülern das Unterrichtsmaterial für den Fernunterricht in einem grossen Briefumschlag oder in einer E-Mail mit Word- oder PDF-Dokumenten zum selber ausdrucken übermittelt wurde…).

Doch was ist der Grund für die geringe Verbreitung digitaler Lehrbücher?

It’s complicated

Bislang erschöpfte sich die Digitalisierung von Lehrbüchern weitgehend darin, die Lerninhalte auf “digitales Papier” (PDF, eBook und ähnliche Formate) zu übertragen. Das ist jedoch schon deshalb keine gute Lösung, weil solche Formate weder für interaktive Inhalte (z. B. ein Quiz), noch für kleine Bildschirme (Mobile) geeignet sind. Dazu kommt, dass PDFs sehr einfach kopierbar sind und somit das geistige Eigentum nur ungenügend zu schützen vermögen (auch mit dem Resultat, dass PDFs de facto nicht monetarisierbar sind).

Echte Digitalisierung setzt die Überführung der Lerninhalte in ein strukturiertes Datenformat voraus, so dass die Lerninhalte maschinell verarbeitet und über beliebige Lern-Medien (Lernplattformen, Lern-Apps, E-Book-Reader, …) und Learning Management-Systeme (LMS) ausgespielt und mit sämtlichen Geräten (Computer, Tablet, Mobile) genutzt werden können.

Und selbstverständlich müssen digitale Lehrbücher auch didaktisch sinnvoll und ihren analogen Pendants mindestens ebenbürtig sein — Digitalisierung ist schliesslich kein Selbstzweck. Ziel muss im Sinne des sich etablierenden Begriffs “Schule 4.0” sein, dass digitale Lehrbücher neue Lernformen und selbstbestimmtes Lernen ermöglichen (individuelle Lernwege, Lernprozesse, …) und die Kommunikation zwischen allen Beteiligten (Lernende, Lehrer, Schulen, Arbeitgeber, Bots…) vereinfachen oder besser noch befördern.

Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie wichtig es in der Schule ist, alte Muster aufzubrechen und bereit zu sein für neue Lernformen. Digitale Transformation in der Schule bedeutet nicht bloss, mit E-Books statt gedruckten Büchern zu arbeiten. Schule 4.0 bedeutet ein Umdenken.

— Michael Hasler, Schulleiter der Neuen Stadtschulen St. Gallen

Für die “Produzenten” von Lerninhalten (Verlage, Schulen, Lehrer) ist die so verstandene echte Digitalisierung eine grosse Herausforderung.

Drum prüfe, wer sich ewig bindet

Die Verlage müssen sich daher die Digitalisierung ihrer Inhalte gut überlegen, auch unter dem ökonomischen Aspekt. Will der Verlag seinen Kunden eigene Apps zum Ausspielen der Lerninhalte anbieten, fallen nebst den eigentlichen Digitalisierungskosten (Überführung der Lerninhalte in ein strukturiertes Datenformat) zusätzlich Entwicklungs- und Wartungskosten an. Nutzt der Verlag dagegen proprietäre, also auf nicht-öffentlichen Standards basierende Lern-Medien/LMS von Drittentwicklern, ergeben sich Abhängigkeiten — ein allfälliger Anbieterwechsel ist mit hohen Zusatzkosten verbunden.

Ein solcher Lock-in resultiert aber nicht nur für die Verlage, sondern auch für die Lerner, das heisst die „Konsumenten“ der Lerninhalte. Solange die Schulen und Verlage auf proprietäre Lösungen setzen, sind die Lerner in der betreffenden Applikation “gefangen”. Die oftmals sehr teuren Lehrbücher sind nicht mit anderen (vom Lernenden vielleicht bevorzugte) Lern-Medien/LMS kompatibel und auch ein manuelles “Migrieren” der Inhalte — oder gar auch des Lernfortschritts, der Kommentare, eigener Notizen etc. — auf eine andere Applikation ist nicht oder nur mit unverhältnismässigem Aufwand möglich.

Es ist somit nicht verwunderlich, dass bisher beide Seiten — die Verlage und die Lernenden — getreu dem Rat von Friedrich Schiller “Drum prüfe, wer sich ewig bindet” das digitale Lehrbuch bisher weitgehend verschmäht haben.

Drum prüfe, wer sich ewig bindet

Das Stecker-Problem

Das Problem ist grundsätzlich gleich wie bei den Steckdosen: Weltweit gibt es über ein Dutzend verschiedener Netzsteckertypen (Stecker-Typ A, B, C, …). Zudem unterscheiden sich die Netzwerkspannungen von Land zu Land (100 Volt, 110 Volt, 220 Volt, …). Wer also beispielsweise in Japan (Stecker-Typ A, 100 Volt) einen Mixer kauft und diesen in der Schweiz verwenden möchte (Stecker-Typ C, 220 Volt), braucht dazu einen Übergangsstecker und einen Stromadapter.

Gleichermassen kommen für die Digitalisierung von Lehrbüchern ganz unterschiedliche Formate in Frage, um die Lerninhalte zu strukturieren und festzulegen, wie die Daten bei ihrer elektronischen Verarbeitung durch Lern-Medien/LMS zu interpretieren sind. Damit verschiedene Datenformate miteinander kompatibel bzw. auf dem gleichen Lern-Medium/LMS ausspielbar sind, braucht es dann ebenfalls “Adapter”. Die Entwicklung und Wartung solcher Softwarekomponenten ist aber nicht nur komplex und somit teuer, sondern naturgemäss auch fehleranfällig. Zudem lassen viele bestehenden Formate eine automatische Konvertierung gar nicht zu, womit im Wechselfall die Daten sogar manuell neu erfasst werden müssen.

Im Prinzip wäre die Lösung einfach, aber…

Die Lösung liegt auf der Hand: Standardisierung.

Hätten alle Stecker die gleiche Form und Stromnetze die gleiche Spannung, könnte der in Japan gekaufte Mixer ohne weiteres überall in der Welt verwendet werden.

Ebenso gilt für digitale Lehrbücher: Würden alle Verlage zur Digitalisierung ihrer Lehrbücher das gleiche strukturierte Datenformat verwenden, könnten sämtliche Lerninhalte ohne die Notwendigkeit einer Migration sofort auf beliebige Lern-Medien/LMS ausgespielt werden. Ein Lock-in bestünde somit weder für die Verlage, noch für die Lernenden, womit die grösste Hürde für die Entstehung, Verbreitung und Nutzung digitaler Lehrbüchern beseitigt wäre.

Im Fall der Steckdosen ist eine weltweite Standardisierung wohl nicht realistisch — zu viele Geräte mit unterschiedlichen Steckern sind schon in Betrieb und kein Land möchte „seinen“ Stecker-Typ aufgeben. Anders sieht es bei den Lehrbüchern aus: Eine Standardisierung zum Nutzen aller Beteiligten ist sehr wohl noch möglich, zumal digitale Lehrbücher wie erwähnt heute noch kaum verbreitet sind.

Bisherige E-Learning-Standard (AICC, SCORM etc.) genügen den heutigen Anforderungen nicht

Die Erkenntnis, dass die Standardisierung des Datenformats eine wichtige Anforderung ist mit Blick auf die Verbreitung digitaler Lerninhalte, ist selbstverständlich nicht neu. Entsprechend wurden in der Vergangenheit schon mehrere “E-Learning-Standards” lanciert. Bekannte Beispiele sind der 1988 durch die US-Luftfahrtindustrie lancierte AICC-Standard sowie der SCORM-Standard der 1997 durch das US-Verteidigungsministerium gegründeten Organisation Advanced Distributed Learning Initiative (ADL). Andere Beispiele sind die Experience API (xAPI) und der cmi5-Standard, hinter denen ebenfalls die US-Luftfahrtindustrie und ADL stehen, sowie der QTI-Standart vom IMS Global Learning Consortium, einer 1997 gegründeten US-Organisation.

Allerdings hat es keiner dieser Standards geschafft, mit den heutigen Anforderungen Schritt zu halten. Nebst “politischen” Gründen (zu viele Köche…) dürfte die Ursache hauptsächlich darin zu suchen sein, dass sich diese Ansätze zu stark an alten Paradigmen orientieren (insb. Fixierung auf das Layout anstatt Content-First, siehe dazu auch die Ausführungen weiter unten). AICC, SCORM etc. bieten zudem keine Lösungen für mit Blick auf die Akzeptanz und Verbreitung eines Standards entscheidende Aspekte, wie z. B. das User Management oder die Monetarisierung.

bitmark — der frei zugängliche Content First-Standard für interaktive Lerninhalte

Eine nachhaltige Lösung zur Schaffung echter digitaler Lehrmittel gemäss den heutigen technischen und didaktischen Anforderungen bietet bitmark.

Die Abhängigkeit von den grossen Tech-Firmen ist ein grosses Thema, nicht nur im Bildungsbereich. Wir wollen schauen, dass sie das Feld nicht übernehmen.

— Dirk Vaihinger, Lehrmittelverlag Zürich

bitmark ist ein von Grosskonzernen und einflussreichen Nationen unabhängiger, frei zugänglicher Content-First-Standard. Er wurde unter der Federführung von Thomas Gabathuler vom Schweizer EdTech-Startup Get More Brain entwickelt und 2019 veröffentlicht. Der bitmark-Standard ist speziell auch für interaktive Lerninhalte konzipiert wie z.B. Quizfragen und Feedback mittels hinterlegter Lösungen.

Mit bitmark wird der Lerninhalt “atomisiert”, das heisst er wird in kleine, sinnvolle und für mobile Bildschirme geeignete Häppchen (“bits”) zerlegt (z.B. Quiz, Übung, …) und dann zu einem schlüssigen Buch zusammengefügt.

Im Gegensatz zu den bisherigen “E-Learning-Standards” (AICC, SCORM etc.) ist bitmark in Zusammenarbeit mit Verlagen und anderen EdTech-Unternehmen „bottom up“ entstanden, und zwar ursprünglich aus der praktischen Notwendigkeit heraus, Sprachlehrbücher zu digitalisieren.

Geeignet für alle Lerninhalte

Der bitmark-Standard dient heute zur Digitalisierung sämtlicher Lerninhalte auf allen Stufen (Kinder- und Erwachsenenbildung inkl. praktischer Bildungswege wie beispielsweise die Lehrlingsausbildung).

Nebst Sprachlehrbüchern ist bitmark also auch für die Digitalisierung von Lehrbüchern etwa zu betriebswirtschaftlichen Themen (Marketing, Projektleitung, Führung etc.) oder zu naturwissenschaftlichen Fächern (Mathematik, Chemie, Physik etc.) bestens geeignet.

Kompromisslos «Content-First»

Anders als AICC, SCORM etc. ist der bitmark-Standard kompromisslos «Content-First». Das heisst, dass bitmark konsequent nur die Beschreibung der Metadaten (Autor, Schwierigkeitsgrad etc.) und des Lerninhalts zulässt (“hier ist eine Lücke”, “die Lösung zu dieser Lücke ist” etc.). Nicht erlaubt sind visuelle Informationen — bitmark überlässt die grafische Darstellung vollumfänglich den Lern-Medien/LMS.

Offenheit des Standards verhindert “Lock-in-Effekte”

Zentral ist auch die Offenheit von bitmark (Open Source). Die Standard-Dokumentation steht der Allgemeinheit unter einer Creative Commons Lizenz frei zur Verfügung und die von der bitmark Association (siehe unten) entwickelten Softwarekomponenten können kostenlos unter einer MIT Lizenz genutzt werden (keine Lizenzgebühren).

Wichtig ist zudem, dass sich der Standard auch hervorragend als Import- und Export-Format zwischen verschiedenen Systemen eignet.

Anders als bei geschlossenen proprietären Systemen ergeben sich mit bitmark somit keine Abhängigkeiten; ein «Lock-in» wird von vornherein vermieden.

Digitale Transformation des Lernens

Der bitmark-Standard bietet eine zukunftsfähige Grundlage für die digitale Transformation des Lernens, indem er für die Lernenden, Lehrer, Schulklassen, Schulen, Arbeitgeber, Bots etc. die Möglichkeit schafft, so zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten, wie es im Einzelfall am besten passt.

Demokratisierung des Lernens

bitmark ist dahingehend konzipiert, den Digitalisierungsprozess, das heisst die Aufbereitung, Weitergabe und Verbreitung digitaler Lerninhalte maximal zu vereinfachen und zu beschleunigen. Das gibt auch kleineren Verlagen und sogar Schulen und Lehrpersonen die Chance, Lerninhalte zu digitalisieren und den Lernenden in geeigneter Form zugänglich zu machen.

Damit schafft bitmark die Grundlage zur «Demokratisierung des Wissens» und leistet so einen Beitrag zur Schliessung der weltweiten Bildungsschere — alle Menschen sollen Zugang zu hochwertigen Lerninhalten haben.

Förderverein “bitmark Association”

Die Weiterentwicklung und Verbreitung des bitmark-Standard wird durch den gemeinnützigen Verein bitmark Association getragen.

Die bitmark Association stellt den Verlagen, Schulen und Lehrern sowie auch den Entwickler von Lern-Medien und LMS kostenlos Open Source-Software zur Verfügung, die der Aufbereitung und Verwendung von Lerninhalten im bitmark-Format dient bzw. zur Entwicklung entsprechender Lern-Medien und LMS genutzt werden kann.

Tragen auch Sie zur Verbreitung von bitmark und damit zur Demokratisierung des Wissens bei, z. B. indem Sie im gemeinnützigen Verein bitmark Association Mitglied (Verlage, Schulen, EdTech-Unternehmen, …) oder Gönner (Private) werden oder indem Sie diesen Artikel weiterverbreiten. 😊

Nützliche Links:

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